Kleine Kinder, große Kinder - Eine Therapie gegen Kleinwuchs?

Gewinnerbeitrag des DGE-Medienpreises 2020/2021 der Journalistin und studierten Medizinerin Johanna Kuroczik, der im Oktober 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist.

FAZ.NET, 03.10.2020

Kleine Kinder, große Kinder

Eine Therapie gegen Kleinwuchs?

Wenn sich abzeichnet, dass Kinder sehr klein bleiben oder extrem in die Höhe schießen werden, können Ärzte einschreiten, mit einer Operation oder Medikamenten. Doch die Behandlungen bergen Risiken. Ein neues Mittel könnte bei einer häufigen Ursache von Kleinwuchs helfen.

Von Johanna Kuroczik

Wie groß ein Kind einmal werden wird, lässt sich manchmal aus seiner linken Hand lesen. Selbst als Erwachsener erinnert man sich dann meist noch an den Besuch in einer Spezialklinik, wo Ärzte die Hand röntgten und mit den Eltern beratschlagten, weil sie sich um ihr zu klein oder zu groß geratenes Kind sorgen. Für Fünfjährige ist es Magie: Ein Foto von der Hand, und die Fremden im weißen Kittel prophezeien die zukünftige Größe. Für die Eltern steht eine schwere Entscheidung an: Soll mit Medikamenten oder einer Operation interveniert werden? Wie groß ist zu groß, wie klein zu klein?

Die erste Operation zur Beinverlängerung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vorgenommen, aber das Knochenwachstum lässt sich auch auf andere Weise manipulieren. In den fünfziger Jahren begann man, Mädchen, die mit zwölf bereits Erwachsene überragen, Sexualhormone zu verabreichen, die das Wachstum bremsen. Inzwischen geriet die Hormontherapie in Verruf, und die medizinische Forschung sucht nach neuen, schonenden Wegen, um Patienten zu helfen. So könnte im nächsten Jahr ein Medikament zur Verfügung stehen, das kleinwüchsige Menschen wachsen lässt, sofern sie unter Achondroplasie leiden.

In Deutschland gelten Frauen als kleinwüchsig, die weniger als 1,53 Meter messen, und Männer unter 1,67, etwa 100.000 Menschen fallen in diese Kategorie. Von Hochwuchs spricht man wiederum, wenn ein Erwachsener 97 Prozent seiner Altersklasse überragt, derzeit liegt diese Latte bei 185 oder 202 Zentimetern - für Frauen beziehungsweise Männer. Wachstum ist ein komplexer Prozess, den mindestens 700 Gene beeinflussen, so viel ist bekannt. Aber erklären lässt sich bisher erst ein Viertel des genetischen Beitrags zur Körpergröße.

Nach der Volljährigkeit wird man nicht mehr größer

Wachsen Kinder, verlängern sich die Knochen besonders an den Enden des Oberschenkels und des Schienbeins: In den sogenannten Wachstumsfugen teilen sich die Stammzellen und verknöchern im Verlauf. Das geschieht nicht gleichförmig, im ersten Lebensjahr legt ein Säugling rund 25 Zentimeter zu, Schulkinder wachsen etwa fünf Zentimeter im Jahr, und vor der Pubertät erleben Mädchen einen Wachstumsschub mit zwölf Jahren; Jungs sind eher vierzehn und schießen dann in einem Jahr bis zu zehn Zentimeter in die Höhe. Mit 18 ist man nicht nur volljährig, sondern auch ausgewachsen.

Um festzustellen, ob ein Kind gesund gedeiht, orientieren sich Kinderärzte an Wachstumskurven. Diese dokumentieren die Körperlänge von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr und zeigen den Fortschritt. Was zu erwarten wäre, lässt sich mit einer Faustregel berechnen: Man addiert die Größe der Mutter zu der des Vaters und teilt durch zwei. Ist es ein Junge, kommen dann 6,5 Zentimeter hinzu, für ein Mädchen zieht man sie ab. Dieser Wert, plus oder minus einen Dezimeter, ergebe die familiäre Zielgröße, erklärt Joachim Wölfle, Kinderendokrinologe und Direktor der Kinderklinik an der Universität Erlangen. Genauer wird es, röntgt man die linke Hand, um das "Knochenalter" zu messen: Der körpernahe Teil des Handtellers besteht aus vielen kleinen Knochen. Deren Form und Grad der Verknöcherung sowie die Wachstumszone der Speiche werden mit Referenzbildern verglichen. So können Ärzte eine Prognose stellen, die nur um etwa fünf Zentimeter in beide Richtungen schwankt.

Diese Unsicherheit stört Kinderärzte nicht, denn sie wollen vor allem wissen, ob das Kind extrem klein oder groß wird. Am häufigsten wird Wölfle von Eltern um Rat gefragt, die fürchten, ihr Kind könnte winzig bleiben - meist weil sie selbst klein sind. Mediziner machen sich allerdings mehr Sorgen, wenn ein Kind plötzlich langsamer wächst. "Es gibt ein sehr diverses Spektrum an Erkrankungen, die zu einem deutlichen Kleinwuchs führen können", sagt Wölfle. Dazu zählen mehr als 600 Krankheiten oder Syndrome, alle sind selten und gehen meist mit anderen Symptomen einher. Kinder, denen es beispielsweise an Wachstumshormonen mangelt, weisen Fettpolster am Bauch auf und haben wenig Muskelmasse. Wird ein solcher Mangel diagnostiziert, lässt sich dieser durch Spritzen einigermaßen ausgleichen. Für den Großteil der Leiden fehlt indes eine medikamentöse Therapie. Das galt bisher auch für die Achondroplasie, eine genetisch bedingte und vergleichsweise häufige Form von Kleinwuchs. Zwar ist nur eines von 25.000 Kindern von der dafür verantwortlichen Punktmutation in einem Rezeptorgen betroffen, doch spätestens seit Schauspieler Peter Dinklage in "Game of Thrones" mitwirkte, kennt jeder deren Auswirkung: Arme und Beine wachsen nicht recht, während Kopf und Rumpf annähernd normal groß werden. Eine Größe von rund 1,30 Meter ist mit Achondroplasie zu erreichen. Infolge von Fehlstellungen wie X-Beinen leiden manche Betroffene unter Gelenkschmerzen, seltener sind Lähmungen oder Atemprobleme, wenn der Schädelknochen gewissermaßen das Rückenmark einklemmt.

Ein neues Medikament steigert das Wachstum um 50 Prozent

Um das Leid zu lindern, wurde ein Wirkstoff entwickelt, mit dem die amerikanische Firma Biomarin unter dem Namen Vosoritid jetzt Hoffnungen schürt. Anfang September sind in "The Lancet" die Ergebnisse einer Phase-III-Studie dazu erschienen. Pädiater Klaus Mohnike, Spezialist für seltene Erkrankungen an der Universitätsklinik Magdeburg, war daran beteiligt und hat vier Kinder über ein Jahr mit dem Mittel behandelt. Sie wuchsen in dieser Zeit etwa 1,5 Zentimeter mehr als die Probanden in der Kontrollgruppe. Das klingt nicht nach viel, doch Mohnike ist optimistisch: "Falls die Wirkung anhält, könnte ein Fünfjähriger, der über zehn Jahre behandelt wird, 15 Zentimeter dazugewinnen und damit vielleicht schon die Grenze zum Normalwuchs erreichen." Schwere Nebenwirkungen habe er nicht beobachtet, nur kurzzeitig sank bei einem Patienten der Blutdruck. Ein gutes Zeichen sei, dass alle Placebo-Patienten nach Abschluss der Studie ebenfalls das Mittel einnehmen wollten. Die Frage, ob es irgendwelche Therapiemöglichkeiten gibt, kennt Mohnike, der dem Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien vorsteht, dem BKMF, nur zu gut. Vor Beginn der Studie bekam der Arzt innerhalb weniger Tage mehr als fünfzig Anfragen von potentiellen Teilnehmern. Derzeit läuft das Zulassungsverfahren, schon im nächsten Jahr könnte Vosoritid verfügbar sein.

Das Präparat gleicht einem körpereigenen Botenstoff und wirkt über einen Rezeptor, der Knorpel und Knochenwachstum beeinflusst. Im Fall eines niederländischen Jungen stellte man eine aktivierende Mutation dieses Rezeptors fest. Als Teenie habe der Junge schon mehr als 2,20 Meter gemessen, berichtet Mohnike. Birgt Vosoritid also unter Umständen ein Missbrauchspotential? "Sollte sich die langfristige Wirkung von Vosoritid bestätigen, könnten gesunde Menschen auf die Idee kommen, sich größer zu machen, als sie sind", gibt Mohnike zu. Zum Doping-Mittel tauge der Wirkstoff kaum.

Einige kleine Menschen sind jedoch bereit, extreme Belastungen auf sich zu nehmen, um ein paar Zentimeter zu gewinnen. In Deutschland gibt es Privatkliniken, die Beinverlängerungen anbieten. Dazu werden die Oberschenkelknochen gebrochen, der Knochen angebohrt und ein sogenannter Marknagel eingesetzt. Dieser kann wie eine Antenne ausgefahren werden, pro Tag um einen Millimeter: "Man muss sein Bein am Oberschenkel um 90 Grad drehen, das ist wegen der gebrochenen Knochenteile möglich, und dann macht es dieses Klickgeräusch", erzählt ein junger Mann, der sich der Prozedur unterzogen hat, aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Das müsse mehrfach am Tag durchgeführt werden und bereite vielen Schmerzen. "Es fühlt sich an wie ein extremer Muskelkater." Nach sechs Monaten voller Physiotherapie, Arztbesuche und regelmäßiger Röntgenkontrollen war er sechs Zentimeter größer. Mit nun 1,76 Meter ist der 30-Jährige selbstbewusst und froh, dass er die Umstände und Kosten von mehr als 35 000 Euro auf sich genommen hat. Das Verfahren wird nicht nur bei Erwachsenen angewandt. In der Kinderorthopädie der Universitätsklinik Münster werden im Jahr rund 130 Kinder auf ähnliche Weise behandelt. Bei Kleinkindern ab drei Jahren werden die gebrochenen Knochen mit einem Gestell von außen gestreckt, dem Fixateur externe. "Wir verlängern nur in Ausnahmefällen mehr als sechs Zentimeter am Stück", sagt Chefarzt Robert Rödl. "Der Prozess erzeugt enormen Stress für die Weichteile und Druck auf den Wachstumsfugen." Anders als Knochen werden Nerven und Sehnen nicht neu gebildet, sondern gedehnt. Der Muskel reagiert auf den Längenreiz und vergrößert sich, allerdings zeitversetzt. Die Operation lässt sich wiederholen, später mit Marknägeln. Werden Unter- und Oberschenkel verlängert, kann ein Kind bis zu 25 Zentimeter größer werden und vielleicht Problemen entgehen, die Kleinwüchsigen den Alltag erschweren: beim Treppensteigen, der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder handelsüblicher Toilettensitze.

Kleinsein hat auch Vorteile: "Man vergleicht sich weniger"

Julika Innig hat ihr Leben entsprechend eingerichtet. Das Auto hat Verlängerungspedale, ihr Kinderfahrrad einen Elektroantrieb, und im Haus finden sich Hocker. Innig ist Ergotherapeutin, Vorstandsmitglied des BKMF und selbst nur 1,25 Meter groß. "Viele Eltern wenden sich an unseren Verein, wenn sie die Diagnose erhalten", sagt Innig. Hier finden sie Unterstützung, psychologischen Beistand und werden an Experten vermittelt. Innig weiß, wie schwierig die Entscheidung für oder gegen eine Operation auf den Eltern lastet. Sie hat sich mit zwölf Jahren gegen eine Beinverlängerung entschieden. Ob sie nun 1,25 oder 1,40 groß ist, macht in ihren Augen keinen Unterschied. Kleinsein bringe auch Vorteile: "Man vergleicht sich weniger mit anderen. Und jeder erinnert sich an einen." Gleichwohl steht sie den Behandlungsmöglichkeiten positiv gegenüber.

In Münster werden seit rund fünf Jahren auch sehr große Teenager operiert. "Die Kinder im Alter von 11 bis 13 Jahren haben schon ziemlich klare Vorstellungen", sagt Chefarzt Rödl. "Sie sehen bei ihren Eltern, was es bedeutet, überdurchschnittlich groß zu sein." Selten ist eine Erkrankung, wie das Marfan-Syndrom, für eine ungewöhnliche Länge verantwortlich, meist stammen die Kinder aus Familien, in denen alle recht hochgewachsen sind. Oft haben die Mütter als junge Frauen erfahren müssen, dass Mitmenschen negativ auf ihre Körperlänge reagierten. Für große Frauen drehe sich immer noch viel um die Partnerwahl, berichtet Rödl. Für Jungs stehen eher praktische Probleme im Vordergrund, dass sie zum Beispiel durch keine Tür passen.

Lange hat man Mädchen mit hochdosiertem Östrogen klein gehalten. Das Hormon leitet die Pubertät ein und halbiert das noch zu erwartende Wachstum, mit Nebenwirkungen, wie Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen - und bei Jungs, die Testosteron erhalten, schlimme Akne. Studien haben obendrein gezeigt, dass die frühen Hormongaben zu Unfruchtbarkeit führen können. So in ihrer Kindheit behandelte Frauen brauchten länger, um schwanger zu werden, und waren häufiger auf Hilfen wie künstliche Befruchtung angewiesen.

In vielen Ländern ist der hormonelle Wachstumsstopp heute untersagt. Auch in Deutschland wird es mittelfristig nicht mehr gestattet sein, glaubt Wölfle. Stattdessen wird operiert: Bei der Epiphyseodese werden die Wachstumsfugen der großen Knochen im Bein durchbohrt und so zerstört. Das ist kein aufwendiger Eingriff, und der Effekt ähnelt dem einer Hormontherapie; selten kann es zu Fehlstellungen kommen, wie O-Beinen. "Ich sage bei jeder Aufklärung, dass ich dem Patienten von dem Eingriff abrate", sagt Rödl. Die Kinder seien schließlich gesund, hätten allerdings "Normierungsprobleme". Autos sind selten für Fahrer über zwei Meter ausgelegt, Hotelbetten zu kurz, Langstreckenflüge eine Qual, hinzu kommen Haltungsschäden und Rückenschmerzen. "Ich denke, dass sich bei Männern über 2,10 Metern die Probleme im Alltag häufen", meint Holger Schnieder, der selbst mehr als zwei Meter misst und sich im Klub Langer Menschen engagiert. Hier geht es nicht um Selbsthilfe: "Wir sind ein reiner Freizeitverein." Besonders beliebt seien die Tanzveranstaltungen. Ob eine Operation das Richtige sei, darauf gebe es keine pauschale Antwort, meint Schnieder. Er erinnert sich daran, wie er als Kind in der Uniklinik Münster zum Knochenmessen war. "Der Arzt, der mich beraten hat, war selbst über 1,90 Meter groß. Er hat zu meinen Eltern gesagt: ,Gucken Sie mich an, so ungefähr ist die Prognose.' Da fühlte ich mich aufgefangen."

Quelle: Erstveröffentlichung 04.10.2020, Johanna Kuroczik, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv


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