Weniger ist oftmals besser: Hormonbehandlung im Alter erfordert Fingerspitzengefühl

63. Deutscher Kongress für Endokrinologie vom 4. bis 6. März 2020 in Gießen

Gießen, Februar 2020 – Hormone sind kein Jungbrunnen für alte Menschen. Der übertriebene Einsatz von Insulin, Schilddrüsenhormon und Testosteron kann im Alter sogar mehr schaden als nutzen, warnen Hormonexperten im Vorfeld des 63. Deutschen Kongresses für Endokrinologie (4. bis 6. März 2020) der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) in Gießen. Welche Besonderheiten beachtet werden müssen, wenn Endokrinologie auf Altersmedizin trifft, und welche konkreten medikamentösen Behandlungsweisen daraus abzuleiten sind, diskutieren Experten auf der Kongress-Pressekonferenz am 4. März 2020 in Gießen.

Der Rückgang der Hormonproduktion wurde in der Vergangenheit nicht nur als Folge, sondern als mitverantwortlich für das Altern angesehen. „Unter dem Schlagwort Endokrinoseneszenz galt es, Hormondefizite normnah auszugleichen“, berichtet Professor Dr. med. Cornelius Bollheimer von der Uniklinik RWTH Aachen. Doch alle Versuche, durch Geschlechtshormone, Wachstumshormone, Melatonin oder Testosteron das Altern aufzuhalten, sind nach Einschätzung des Lehrstuhlinhabers für Altersmedizin gescheitert. „Hormone sind als Anti-Aging-Methode nicht effektiv“, erklärt Bollheimer. Studien hätten gezeigt, dass gerade bei alten Menschen mit Diabetes, Schilddrüsenunterfunktion oder Männern mit niedrigem Testosteron Hormongaben mit Bedacht verordnet werden müssen.

Beispielsweise kann eine straffe Behandlung bei Diabetes mellitus, die Blutzuckerwerte wie beim jungen Menschen anstrebt, schnell zur Unterzuckerung führen, für die laut Bollheimer ältere Menschen anfälliger sind als junge: „In den Hypoglykämie-Episoden kommt es dann zu schwerwiegenden Stürzen mit Knochenbrüchen, und im Gehirn fördern Unterzuckerungen die Entwicklung einer Demenz“, warnt der Experte. Dies sehen auch die Fachverbände so. Die American Diabetes Association erlaubt bei gebrechlichen alten Patienten Abweichungen von der Norm: Der Nüchtern-Blutzucker darf schon mal bei 130 mg/dl liegen. Auch hierzulande empfehlen medizinische Fachgesellschaften höhere Zielwerte. Der Langzeitblutzucker HbA1c, der gewöhnlich bei einem Zielkorridor von 48 und 58 mmol/mol (6,5 bis 7,5 Prozent) liegt, darf bei alten Menschen bis an das obere Ende bei 58,5 mmol/mol (7,5 Prozent) ausgeschöpft werden. Geht es um den Blutzuckerwert zur Nacht, empfehlen die Hormonexperten sogar 100-180 mg/dl (5,6-8,3 mmol/l).

Auch bei der Schilddrüse gelten für ältere Menschen heute andere Regeln. Eine häufige Störung ist hier die subklinische Schilddrüsenunterfunktion. Die Konzentration des Hormons FT4 befindet sich noch im Normalbereich. Die Patienten haben keine Beschwerden. Doch ein Anstieg des Steuerhormons TSH zeigt an, dass die Drüse ihre Aufgaben nur unter vermehrtem Antrieb durch die Hirnanhangdrüse erfüllt. Bei jüngeren Patienten empfehlen die Endokrinologen eine Hormonbehandlung, um die Schilddrüse zu entlasten und langfristig Schäden für Herz und Kreislauf abzuwenden. „Bei älteren Menschen fehlen Hinweise, dass Patienten mit einer subklinischen Schilddrüsenunterfunktion in irgendeiner Weise von der Hormonbehandlung profitieren“, sagt Bollheimer. Die Leitlinien hätten den TSH-Wert, ab dem mit einer Behandlung begonnen werden soll, bei älteren Menschen auf 10 mU/l erhöht.

Die größten Missverständnisse bestehen bei der Testosteronbehandlung des alten Mannes. In Analogie zu den Wechseljahren der Frau, der Menopause, wurde von einer Andropause des Mannes gesprochen. „Das ist falsch“, sagt der Experte: „Beim Mann gibt es kein abruptes Erlöschen der Hormonproduktion wie bei der Frau. Männer haben keine Wechseljahre.“ Richtig sei, dass die Testosteronbildung mit dem Alter nachlasse. Das geschehe aber nicht abrupt, sondern gleichmäßig und von Mann zu Mann höchst unterschiedlich. Ein gesunder 30-jähriger Mann könne einen niedrigeren Testosteronwert aufweisen als ein gesunder 80-Jähriger. Auch sei noch nicht hinreichend geklärt, ob das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall durch eine zu liberale Testosterongabe erhöht wird. Das Fazit des Experten: „Testosteron ist kein Medikament für die Geriatrie.“

Die neuen Erkenntnisse bedeuten indes nicht, dass ältere Menschen nicht auf Blutzucker, Schilddrüse und Testosteron achten sollten. Die Hormonwerte sollten kontrolliert und in den spezifischen biologischen (Allgemeinzustand, Lebenserwartung, Gewicht) und medizinischen Kontext (Erkrankungen) des jeweiligen Patienten gesetzt werden, betont DGE-Kongresspräsident Professor Dr. med. Andreas Schäffler vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM). „Bei geriatrischen Patienten ist immer ein endokrinologisches Fingerspitzengefühl neben einem breiten internistischen Wissen gefordert“, ergänzt der Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Standort Gießen.

Literatur

Professional Practice Committee: Standards of Medical Care in Diabetes - 2020.
Diabetes Care 2020 Jan; 43(Supplement 1): S3-S3. DOI:10.2337/dc20-Sppc.

Bekkering, GE et al., Thyroid hormones treatment for subclinical hypothyroidism: a clinical practice guideline.
BMJ 2019;365:2006. DOI: 10.1136/bmj.l2006.

Mooijaart, SP et al., Association Between Levothyroxine Treatment and Thyroid-Related Symptoms Among Adults Aged 80 Years and Older With Subclinical Hypothyroidism.
JAMA. 2019;322(20): 1977–1986. DOI:10.1001/jama.2019.17274.

Decaroli, MC, Rochira V, Aging and sex hormones in males.
Virulence; 2017; 8(5): 545–570. DOI: 10.1080/21505594.2016.1259053.

Basaria, S et al., Adverse Events Associated with Testosterone Administration.
N Engl J Med 2010; 363:109-122. DOI: 10.1056/NEJMoa1000485.

Terminhinweise

Pressekonferenz
Termin: Mittwoch, 4. März 2020, 9:30 bis 10:30 Uhr
Ort: Hörsaalgebäude „Neue Chemie“, Campus Naturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen, Seminarraum C105
Anschrift: Heinrich-Buff-Ring 19, 35392 Gießen
Programm der Pressekonferenz (PDF)

Symposium: Diabetes over the life span
Vorsitz: Klaus-Dieter Palitzsch, Jochen Seufert
Termin: Mittwoch, 4. März 2020, 15:30 bis 17:00 Uhr
Präsentation: Cornelius Bollheimer: Therapie des Diabetes mellitus beim geriatrischen Patienten (16:30 bis 16:55 Uhr)
Ort: Hörsaalgebäude „Neue Chemie“, Campus Naturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen, Raum C112
Anschrift: Heinrich-Buff-Ring 19, 35392 Gießen

Weitere Informationen zum Kongressprogramm finden Sie unter www.dge2020.de

Kontakt für Journalisten

Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE)
Prof. Dr. med. Matthias M. Weber (Mediensprecher)
Dagmar Arnold
Postfach 30 11 20
D-70451 Stuttgart
Telefon: 0711 89 31-380
Telefax: 0711 89 31-167

www.endokrinologie.net
www.hormongesteuert.net
www.dge2020.de

Endokrinologie ist die Lehre von den Hormonen, Stoffwechsel und den Erkrankungen auf diesem Gebiet. Hormone werden von endokrinen Drüsen, zum Beispiel Schilddrüse oder Hirnanhangdrüse, aber auch bestimmten Zellen in Hoden und Eierstöcken, „endokrin“ ausgeschüttet, das heißt nach „innen“ in das Blut abgegeben. Im Unterschied dazu geben „exokrine“ Drüsen, wie Speichel- oder Schweißdrüsen, ihre Sekrete nach „außen“ ab.


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